Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601
Replik auf Worte von Kardinal Marx
Notre Dame brennt lichterloh. Eine große Kirche wird verwüstet und entgeht knapp dem Abriss. Es kommt niemand zu Tode. Das Inferno generiert einen Sachschaden. Weltweite Anteilnahme und eine erstaunliche Solidarität angesichts des befürchteten Verlustes ist vernehmbar.
Verstörend wirkt hierzulande das ignorante Verhalten der Programmgestalter von ARD und ZDF am Abend des Brandes. Interessierte Fernsehzuschauer müssen auf CNN, BBC oder N24 ausweichen.
Mittelbarer und unmittelbarer Vandalismus
Die intensive Wahrnehmung des ikonographisch aufgeladenen Ortes wirft grundsätzliche Fragen auf, denn es geht um mehr als um mittelalterliche Kunstschätze, die (außer in den Fensterverglasungen) gar nicht mehr so zahlreich in der 1793 vandalisch heimgesuchten Kathedrale vorhanden sind. Vandalismus ist auch heute im laizistischen Frankreich nichts Unbekanntes. Diesem fallen dort laut FAZ täglich drei Kirchen anheim. So ist der Umstand, dass viele beim Brand von Notre Dame reflexartig an Brandstiftung denken, etwas verständlicher. In St. Sulpice, der größten Pariser Pfarrkirche, ist es tatsächlich kurz zuvor so gewesen.
Die Faktenlage gibt für Notre Dame Gott sei Dank anderes her. Es bleibt zu hoffen, dass die mediale Aufmerksamkeit, die sich auf die renommierte Kathedrale fokussiert, auch den vielen durch übelste Schändungen tief ins Mark getroffenen Kirchengemeinden Frankreichs zugutekommt. Der Pariser Erzbischof Michel Aupetit bringt es auf den Punkt: "Wir haben das Gefühl, dass wir nicht nur unsere Kathedrale wiederaufbauen müssen, sondern auch unsere Kirche, deren Angesicht so verwundet ist."
Notre Dame als Ikone mit Metaebene ohne Steinmeier und Marx
Notre Dame hat eine Metaebene. Die Kathedrale stellt (in soziologischer Hinsicht) eine Projektionsfläche für Sehnsüchte und Hoffnungen innerhalb einer weltanschaulichen Identität zur Verfügung. Das gigantische Spendenaufkommen für den Wiederaufbau lässt – erstaunlich groß im Vergleich zu manchen Hungerkatastrophen, kriegerischen Handlungen oder sonstigen guten Dingen – eine modifizierte Form des Ablasshandels assoziieren. Zugleich dokumentieren die Spenden die Bedeutung Notre Dames. Es verwundert nicht, dass der pathetische Poseur Emmanuel Macron das Thema für sich und darüber hinaus national zu instrumentalisieren sucht.
Auch wenn sich das Christentum mit einer Theologie des heiligen Ortes zu Recht schwer tut, eine Mehrdimensionalität des Begriffes Notre Dame scheint legitim zu sein. Was beinhaltet aber eine mögliche Metaebene?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht von einem "Wahrzeichen europäischer Kultur" und dergleichen. Das ist eine unzulässige Verkürzung. Steinmeiers Sicht zufolge wäre Notre Dame lediglich eine dauerhafte historische Ausstellung mit regelmäßigen Kult-Events, quasi eine Installation mit Hintergrund. Seine Museumsthese wirkt unterkomplex.
Kardinal Marx gegen den Begriff "christliches Abendland"
Notre Dame ist eine Ikone des christlichen Abendlandes. Sie verweist auf die Transzendenz, von der Jesus von Nazareth in seiner Gottesbeziehung erzählt hat. Diese Gottesrede hat sich durch Inkulturation und geistesgeschichtliche Dialektik zu einem spezifischen Novum geformt, dessen Erträge in einem langen wechselvollen Procedere ihren Niederschlag in den Regularien der sog. westlichen Welt gefunden haben, von 1215 bis 1948, von der Magna Charta bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Christliches Abendland? Kardinal Reinhard Marx erklärt den Ausdruck "christliches Abendland" für untunlich, weil er "ausgrenzend" sei. Die logische Übersichtlichkeit seiner Äußerung liegt auf der Hand: Jegliche Meinungsäußerung oder Mitteilung einer Überzeugung ist möglicherweise ausgrenzend, da ich stets davon ausgehen muss, dass mein Gegenüber sie nicht teilt. Für einen Dialog oder eine Erörterung sind allerdings Standpunkte vonnöten.
Marxens Diktum erscheint darüber hinaus wie ein Narrativum seiner umstrittenen Ablegung des Brustkreuzes am Jerusalemer Tempelberg. Dass sein Kollege im evangelischen Ritus, Bischof Bedform-Strohm, es ebenso abnahm, dürfte die Verwunderung ob dieser empfundenen submissio nicht verringern.
Josef Pieper und die "theologisch gegründete Weltlichkeit"
Es mutet grotesk an, vor einem Kardinal den Terminus "christliches Abendland" verteidigen zu müssen. Aber Josef Pieper, der 1997 verstorbene Münsteraner Altmeister der philosophischen Anthropologie, scheint in diesem Punkt weitaus überzeugender zu sein als Reinhard Marx.
Piepers Definition des christlichen Abendlandes als "theologisch gegründete Weltlichkeit" ist virtuos und hat ihren Grund im Aristotelismus, den Thomas von Aquin neu belichtete. Beide – Religion und Welt – sind kontrapunktisch und spannungsreich aufeinander verwiesen. Religion will nicht ohne umfassende Welt- und Sinnesbejahung und vor allem die Vernunft auskommen, die Welt vermag hingegen nicht ohne ihren Bezug zu Gott zu existieren. Die Dinge sind gut, weil Gott sie gemacht hat. Pieper begreift den Anspruch des christlichen Abendlandes - eingedenk der jüdischen und griechischen Wurzeln - dynamisch und prozessual, dieser geschichtliche Entwurf müsse immer wieder neu dekliniert werden.
Wir lernen: Ohne eine Theologie, die den Einbezug von vernunftbetonten Verstandesleistungen förderte, hätte sich säkulare Wissenschaft nie und nimmer zum Vorteil unserer zivilisatorischen Errungenschaften emanzipieren können.
Mit Piepers komplexer und zugleich elementarer Analyse sind wir sensibilisiert für die Abgründe und Perspektiven eines Widerstreits zwischen Theologie und Welt, Kirche und Staat, Credo und säkularer Wissenschaft. Das Christentum hat diese Dialektik von Glaube und Vernunft mit den Phasen der Aufklärung im 12./13. Jh. (Aristotelismus), 15. Jh. (Humanismus) und 18. Jh. (Aufklärung im bekannteren Sinne) mühevoll gemeistert. Diese aufklärerische Prozessualität ist nachhaltig, sie dauert an und ist eine Stärke des Christentums. Nicht jede Religion kann das für sich in Anspruch nehmen.
Deutliche Worte von Lucetta Scaraffia
Kehren wir zur Causa Notre Dame zurück. Die römische Historikerin Lucetta Scaraffia hat Bemerkenswertes von sich gegeben, nachdem sie sich darüber beklagt hatte, dass der französische Staat Notre Dame finanziell für laikale Zwecke zwar gerne genutzt habe, aber in die Bausubstanz zu investieren sich weigerte:
"Die öffentliche Bestürzung weltweit – und nicht zuletzt der Jubel fundamentalistischer islamistischer Internetseiten – machen deutlich, wie dumm und oberflächlich die Debatte war, die vor Jahren die Erwähnung der christlichen Wurzeln in der Europäischen Verfassung verhinderte. Die Geschichte existiert, auch wenn wir sie vergessen wollen, und die Erinnerung kann schlagartig geweckt werden, wenn die Folgen unserer Entscheidungen uns schon nur noch zu Asche und rauchenden Trümmern bringen."
Peroratio mit Immanuel Kant
1. Notre Dame ist eine Ikone des christlichen Abendlandes.
2. Die Bezeichnung "christliches Abendland" ist berechtigt und informativ. Kardinal Reinhard Marx muss in dieser Hinsicht deutlich widersprochen werden.
3. "Christliches Abendland" vergegenwärtigt die spannungsreiche Kontrapunktik von Theologie und Welt ("Bipolarität als Grundlage europäischer Identität" - Berthold Wald).
4. Die Zusage und Einforderbarkeit von Menschenrechten, die hochdifferenzierten und gewaltenteiligen Demokratien und die außerordentlichen hohen Standards von Wissenschaft und Technik dokumentieren u.a. die jahrhundertelange Dialektik von Religion und Vernunft im Spannungsfeld des christlichen Abendlandes.
5. Wenn man will, dann kann man das erkennen. Und so seien diese Betrachtungen mit einem Satz von Immanuel Kant beschlossen: "Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
6. Kant ist auch eine Ikone des christlichen Abendlandes. (mpk/April 2019)
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