Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601   

                                                                          

                        

                                                 

Teilzeitpapst Joseph Ratzinger?

Rezension zu Marco Politis Buch: Benedikt. Krise eines Pontifikats      

Als Marco Politi im September 2011 mit seinem Buch „Joseph Ratzinger. Crisi di un papato“ aufwartete und daraufhin mit dem Satz "Joseph Ratzinger hätte nicht Papst werden dürfen" zitiert wurde, konnte man im allerersten Augenblick klischeehaft denken, dass der Vortrag zur üblichen medialen Melange eines Antiklerikalismus oder eines allzu eilfertigen Linkskatholizismus gehöre.

Indes begann man sofort die Stirn zu runzeln und sich zu vergegenwärtigen: Marco Politi ist ein prominenter Vatikan-Experte, der 20 Jahre lang für die führende italienische Tageszeitung „La Repubblica“ über die Zentrale von einer Milliarde Katholiken berichtete. Mit anderen Worten: Politi ist wahrlich bestens informiert, umfassend gebildet und kann als ein Schwergewicht der Vatikan-Berichterstattung betrachtet werden.                                                                                                                                                          
Spannende Lektüre durch Detailreichtum und analytische Schärfe                   
Nichts von den Stereotypen à la überzogene Kirchenkritik oder dergleichen erweist sich als begründet nach der Lektüre des nun auch in deutscher Sprache vorliegenden Buches. Ja, man hat auf den ersten Seiten nahezu den Eindruck, dass Politi sogar ein gerüttelt Maß an Beißhemmung gegenüber Benedikt XVI besitzt. Marco Politi schätzt den Menschen Joseph Ratzinger. 
      

Marco Politi    

Benedikt                           Krise eines Pontifikats         

544 Seiten                             ISBN 978-3-86789-171-4   Rotbuch Verlag    

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Um es deutlich zu sagen: Hier und da könnte man sich sogar auch noch etwas mehr theologische Kritik an Benedikt XVI. vorstellen. Immerhin prangert dieser Papst allerorten den "Relativismus" der Postmoderne an und zugleich zementiert er in der kirchlichen Liturgie den gottesdienstlichen Relativismus, indem er den sog. alten lateinischen Ritus – zwangsläufig mit vielen weltanschaulichen Implikationen eines Vorvorgestern – mit der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gleichsetzt. Wenn Politi zunächst etwas sanftmütig mit Benedikt XVI. umgeht, so unterstreicht dieser Umstand vielleicht aber auch nur seine Vertrauenswürdigkeit für kirchlich moderate Kreise. Er bleibt hier der beschreibende und faktenbeseelte Journalist, der gleichwohl ein vernichtendes Resümee anzubieten hat.

So kann Politi nicht umhin, Tacheles zu reden und Strukturelles aufzuzeigen, das sich aus der eingehenden Betrachtung der Vita des professoralen Papstes zwangsläufig ergibt. Die befremdende Serie an Pleiten, Pech und Pannen, die dieses Pontifikat zu begleiten scheint, erhält eine Stringenz. Und genau diese ungute Sinnhaftigkeit subsumiert Politi bereits im ersten Satz: "Joseph Ratzinger hätte nicht Papst werden dürfen." Politis spannend zu lesende Kritik besticht durch analytische Schärfe und Detailreichtum, das erahnen lässt, wie sehr er hinter den Kulissen zu Hause ist. Manchmal fragt man sich: Woher hat er all dieses Insider-Wissen?

Kardinal Ratzinger und papabile?

Kardinäle, die polarisieren, gelten hinsichtlich des Papstamtes als nicht wählbar. Das traf als ungeschriebenes Gesetz auf den reformfreundlichen Kardinal Carlo Maria Martini ebenso wie auf den Hardliner Joseph Ratzinger definitiv zu, dessen konservative Energie seit 1981 in Rom bekannt war. Es stellt sich die bohrende Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass er, der lange Zeit als nicht „papabile“ galt, so schnell das Konklave als 265. Papst wieder verlassen konnte? Für Ratzinger bahnte sich eine Wende im Jahre 2004 an, als er - so Politi - durch den sich dramatisch verschlechternden Gesundheitszustand seines Vorgängers als enger Vertrauter zunehmend in den Fokus der medialen Wahrnehmung geriet.

Laut Politi war es nicht nur die neue von Johannes Paul II. auf den Weg gebrachte Konklave-Wahlordnung, die eine jahrhundertealte kirchliche Weisheit der Zweidrittel-Mehrheit außer Acht ließ. Übrigens erfährt man bei über die zahlreichen Konklave-Details hinaus, dass Ratzinger als Benedikt XVI. genau diese Wahlordnung später wieder beseitigte. Nein, es war die Leere, in die sich viele Kirchenfunktionäre hineingeschubst fühlten: Nach dem Tode des Polen Karol Wojtyla, der seinen Konservativismus mit spirituell-mystischen Gesten abmildernd zu inszenieren wusste, war Orientierung, Bewahrung und vor allem aber Furcht angesagt. In dieses Desiderat passte Ratzinger als vermeintlicher Übergangspapst. 

Bemerkenswert bleibt, dass das Opus Dei bei Politi nur am Rande der Konklave-Schilderungen als Quasi-Strippenzieher-Club genannt wird. Zu sehr scheinen derart schillernde Tendenzzirkel zur selbstverständlichen Metaphorik der vatikanischen Kultur zu gehören. Politi stellt schlichtweg fest: Diese Welt hat mit dem alltäglichen Leben nichts mehr gemeinsam. Diese Diskrepanz sei mit Benedikt leider extrem groß geworden. Er halte sich nahezu in gefilterter Luft auf.                                                                                                                            
Professor, Papst, Pleiten, Pech & Pannen?                                                          
Ratzinger sei kein Politiker, kein wirklich offensiv kommunizierender Papst, er suche nicht den Dialog mit den Bischöfen, Kardinälen, den Journalisten oder einfachen Gläubigen. Er habe auch kein Programm, er könne die kuriale Verwaltung, die nach Reformen und einer ordnenden Hand geradezu schreie, auch zum Unmut vieler römischer Verantwortlicher einfach nicht führen; zudem sei er von eher kontraproduktiven Mitarbeitern umgeben. Mit dem letztgenannten Vorhalt zielt Politi insbesondere auf den das Staatssekretariat leitenden Kardinal Tarcisio Bertone, was spätestens seit der Affäre „Vatileaks“ ein Allgemeinplatz geworden ist. Der feine Unterschied besteht jedoch darin, dass Politi die römische Gemengelage mit Fakten begründen und die aufgezeigten Probleme abstrahieren kann. 

Benedikts persönliche Liebenswürdigkeit, die sich mit einer Konfliktscheuheit paare, führe dazu, dass er sich als brillanter und zugleich hochbetagter Intellektueller bei allem Fleiß hinsichtlich der vatikanischen Aktenarbeit und ungeachtet allen mühsamen Übens im öffentlichen Auftreten letztlich doch lieber seinen Predigten in Form von Buch-Projekten widme. Er sei de facto ein Teilzeit-Papst.  

Auch wenn Benedikt XVI. in einigen Fällen wie z.B. den Missbrauchsskandalen mit seinen über beschämend lange Zeit ungeachteten Opfern merklich lernen musste, so bleibt er nach Politi in den Machenschaften der kurialen Apparatschiks ein eher beratungsresistenter Passiver, auch wenn man ihm ursprünglichen Tatendrang unterstellen mag. Sein Handicap bleibe die letztlich verweigerte Kommunikation. In der Sprache eines fiktiven vatikanischen Busfahrers würde es plakativ heißen: Mit dem Fahrer bitte nicht sprechen!

Was man auch an kurzweilig zu lesenden Insider-Dossiers – oft sogar mit den Angaben der jeweiligen Uhrzeiten – zu den Debakeln (Regensburger Rede, Kondome in Afrika, Piusbruderschaft, Karfreitagsfürbitte, stornierte Bischofsernennungen, Missbrauchsskandale, „Vatileaks“ und der Scheinprozess gegen den ganz und gar nicht so dummen und noch viel weniger einsamen Kammerdiener Paolo Gabriele) durch Politi präsentiert bekommt: Es bleibt angesichts dieses selbstgewählten vatikanischen Kokons beim Leser ein gewisses Mittrauern zurück, das einen Joseph Ratzinger lieber in Regensburg bei seinem Bruder Georg wünscht und ihm dort seinen Lebensabend gönnt. 

Stagnation und Resignation     

Auf Seite 486f hat Politi seine Quintessenz nahezu beiläufig genannt: „Der Stillstand ist für jeden sofort spürbar, der mit der Römischen Kurie zu tun hat. Die beiden großen Reformen seiner Amtszeit – die Verschärfung der Kirchengesetze zum sexuellen Missbrauch und die teilweise Anpassung der Vatikanbank IOR an die Standards des internationalen Finanzsystems zur Bekämpfung von Geldwäsche – wurden ihm von außen aufgezwungen. (...) Dagegen steht die einzige Innovation, die er selbst initiiert und aktiv betrieben hat – die Gleichstellung der tridentinischen Messe mit dem Ritus Pauls VI. und die Rücknahme der Exkommunikation der Lefebvre-Bischöfe – ganz im Zeichen des Rückschritts, wurde von den Bischöfen mit Unbehagen aufgenommen und stieß bei den Gläubigen auf Unverständnis.“

Joseph Ratzinger vermag für Politi zwar als Doktor des Glaubens immer wieder einige intellektuelle Eliten zu begeistern, aber als Benedikt XVI. strahle er keine Hoffnung für Suchende aus. Er sei bei aller persönlichen Wertschätzung mittlerweile auch für einen Großteil gestandener Katholiken die falsche Besetzung, was angesichts der nebulösen Untätigkeit zu einem verhängnisvollen Reformstau geführt habe. Nicht nur die Basis spürt, dass hier wertvolle Zeit vertan wird.

Gottes Power und ihre subversive Kraft     

Was wäre aber ein Buch, das von einem Christen geschrieben wurde, ohne die Hoffnung auf die subversive Kraft des Heiligen Geistes? Was wäre ohne Gottes Power? Diese Hoffnung zeigt sich bei Politi auf Seite 497 und das wieder einmal eher beiläufig: "Schließlich weiß man aus der Kirchengeschichte, dass sich mancher, der unter einem bestimmten Papst ein Schattendasein führte, später, als das Klima freier wurde, überraschend entwickelte. So nahmen am Zweiten Vatikanischen Konzil mehrheitlich Bischöfe teil, die zum großen Teil von Pius XII. ernannt worden waren." 

Noch kann man dem nichts hinzufügen, obwohl Benedikt XVI. der erste Papst ist, der über einen möglichen Rücktritt öffentlich nachgedacht hat. 

(mpk/29.12.2012)                                                                                                   

                                                                                                                         

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