Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601
Die PC-Orgel als demokratisches Instrument (Teil 2)
Musiksoziologische Gedanken im Spannungsfeld eines elektronischen, digitalen, sakralen und virtuellen Simulacrums
Mit
den Zeilen dieser Seite wird ein Ziel verfolgt: Das
Instrument soll in konziser Form musiksoziologisch eingeordnet werden.
Vor allem soll jedoch der
Hybris ein ehrlicher Spiegel vorgehalten
werden, die da meint, dass ein sog. virtuelles Orgelinstrument etwas
grundsätzlich Neues gegenüber der Digital- oder Sakral-Orgel darstelle.
Beide Systeme besitzen einen Computer, der eine ist intern gelagert, der
andere extern. Die mit dem sprachlogisch etwas irrlichternden Begriff
versehene sog. virtuelle Orgel arbeitet als softwarebezogene
Installation modularer und ist eher auf Updates bzw. Upgrades ausgelegt
als das hardwarebezogene Instrument Digital- oder Sakral-Orgel, das sich
durch schnellste und verlässliche Ingebrauchnahme auszeichnet.
Die
derzeitigen Innovationen LiVE von Johannus und Sweelinq von Noorlander
versuchen, zwischen beiden Systemen kompetent eine Brücke zu schlagen.
Hinzu kommt die Problematik der Abstrahlung, die hinsichtlich einer
Vergemeinschaftung des Hörens für die Digital- oder Sakral-Orgel
zunächst nicht so große Probleme bereitet wie die softwarebezogene
Installation à la Hauptwerk oder GrandOrgue. Letztere wurde einst gar
als "Egoisten-Orgel" bezeichnet.
Differenz vs. Defizit
Das jüngste historische Instrument ist das
Harmonium. Seine gesellschaftliche Relevanz darf nicht unterschätzt
werden. Es stellte eine vor
allen Dingen neue Egalité her, die insbesondere dem weiblichen Anteil
der Bevölkerung zugute kam. So muss man sich die damaligen Verhältnisse
an einem deutlichen Beispiel in Erinnerung rufen: Zu Chopins
Beerdigungsmesse mussten 1849 die Frauen in der Pariser La Madeleine
hinter einem schwarzen Vorhang singen, um Mozarts Requiem darbieten zu
können, was der Wunsch des Verstorbenen war. Im privaten Raum konnte man
sich dieser Kontrolle bereits seit Längerem durch das Klavier entziehen. Abgesehen von der
weiteren geschlechteremanzipatorischen Wirkung kam durch das Harmonium jedoch auch die
häuslich einverleibte Aura
des Sakralen und somit eine bis dahin unerlaubte Partizipation des bürgerlichen
Milieus auf den Weg.
Mittlerweile
begreifen wir, dass das Harmonium nicht nur ein mehr oder weniger
geglückter Orgelersatz für durchschlagende Zungenregister ohne
Stromkosten ist, sondern ein Instrument eigener Qualifikation darstellt.
Von dieser Erkenntnis sind viele Besitzer und Hörer digitaler Orgeln
leider weit entfernt. So sind sie häufig von einem Komplex geplagt, der sich vor der
hochkultürlichen Folie realer Kirchen- oder Konzertsaal-Orgeln mit Licht
und Schatten abzeichnet. Die bloße Differenz wird nahezu autoaggressiv
als Defizit mit Erklärungsbedarf wahrgenommen.
Poweruser und Komplexe
Mehr
noch: Selbst Poweruser leiden unter diesem Komplex, unterscheiden
lustig und penibelst zwischen digital und virtuell,
rechtfertigen sich mit vorgeblich unkritisierbaren Ausstattungen und
titelillustren Gästen bei fettem Honorar auf der Orgelbank: Seht her,
die einst
verfemte elektronische Plastik-Orgel ist perdú, ich habe die größte und
weltbeste Anlage, sonst kämen die erlesensten Organisten ja doch nicht
zu mir
ins Wohnzimmer! Obendrein gibt es dann noch den
Hersteller-Zertifizierungscode
"ultra-realistisch", mit dem man sich an der Pfeifenorgel abarbeitet,
anstatt sich ehrlich zu machen und die überforderten Nahfeldmonitore
etwas tiefer zu hängen, um einmal metaphorisch konsequent zu bleiben.
Kurzum: Die Digitalorgel - egal ob mit internem oder
externem PC - kann sehr gute Ergebnisse auf den Weg bringen. Eine
reale Orgel wird sie nie
ersetzen können, da sie die komplexen Klangparameter nicht
vollumfänglich abzubilden in der Lage ist. Sie stellt eine eigenständige
Instrumentengattung dar, die für viele Menschen auch in kleineren
Einkommensverhältnissen unabhängig von ihrer Weltanschauung zugänglich
ist. Um es rhetorisch und vielleicht auch humorvoll auf den Punkt zu
bringen: Die digitale Orgel könnte eine Konkretion von Willy Brandts
einstigem Slogan "Wir wollen mehr Demokratie wagen" sein.
Lassen
wir zum Schluss dieser kleinen Betrachtung den legendären Kommentar
eines promovierten Konzertorganisten auf uns wirken, denn er passt sehr
gut zur soziologischen Anamnese: "Was mir nämlich
nicht behagt, ist das System einer von diversen Anbietern von Hardware
und Software, von "Hochglanz"-Rezensenten und von finanziell
überdurchschnittlich gut ausgestatteten Kunden, die allesamt
gelegentlich bis zum Rang eines Gurus aufsteigen können, dominierten
"geschlossenen" Hauptwerk-Gesellschaft." (mpk)