Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601   

                                                                          

         

                                                                                                  

                                                                                                                                    
Cameron Carpenter - ein Scharlatan 'weiblichen Typs'? 

Ein paar subjektive Bemerkungen zu Prof. Ulrich Walthers Sichtweise auf einen US-amerikanischen Ausnahmeorganisten  

Ulrich Walther: Zwischen Crossover und Kommerzialisierung. Die Orgel im Spannungsfeld fortschreitender kultureller Ökonomisierung – ein Plädoyer für die künstlerische Orgel im 21. Jahrhundert, in: organ - Journal für die Orgel (18 Jg.), Heft 2015/1, S. 24-31.

Vorwort für die Puritaner der fundamentalistischen Orgelszene 

Um es zu Beginn deutlich auszusprechen: Cameron Carpenter sollte man innerhalb der Orgelszene komplementär verstehen. Diese ist im Gegensatz zur sog. Klassikszene weiteren und sehr komplexen (auch kirchlichen) Herausforderungen zuzuordnen. Carpenter ergänzt diese Szene, die innovativer Schübe bedarf und ungeachtet dessen bereits einen reichhaltigen Schatz aufweist.

Ich stelle fest, dass der US-amerikanische Ausnahmemusiker eine gute dialektische Bereicherung für die säkulare und kirchliche Rezeption von Orgelmusik darstellt.  

Ein Zufall: die organ-Lektüre 

Durch Zufall geriet ich an den Text des Grazer Orgelprofessors Ulrich Walther, der mich nicht nur irritierte, sondern auch durchaus fassungslos zurückließ. Die Redaktion der genannten Zeitschrift "mit den vielen Anführungsstrichen" (die ich vor Jahren einmal für eine Zeit abonniert hatte) fragte bei mir an, ob sie in einem Artikel zum Tode von Almut Rößler ein Foto aus meinem Online-Journal verwenden dürfe. Auf mein Ja hin wurde mir nach dem Druck ein Belegexemplar zugesandt. Auf der Vorderseite der Ausgabe heißt einer der vier Untertitel: "Kommerzialisierung der Orgel".

Ein wissenschaftlicher Beitrag Ulrich Walthers? 


Prof. Ulrich Walther beeindruckt die Leser zunächst durch eine musiksoziologische Attitüde; bereits die Überschrift des Artikels lässt einen großen Wurf erwarten: Die systemische Makroebene des Musikbetriebs wird als Untersuchungsgegenstand insinuiert. Ulrich Walther bemüht sich offenbar deutlich um diesen Eindruck. Die "kulturelle Infrastruktur" werde „zunehmend einer ökonomischen Effizienzprüfung unterzogen“, ja, so bedauert er es zu Beginn. Dem Leser drängt sich der Eindruck auf, dass das alles einer kritischen und tiefschürfenden Sichtung zugeführt werden solle. Liest man weiter, so ergibt sich durchaus die gefühlte Gewissheit, dass der Textinhalt doch vollkommen auf den US-amerikanischen Konzertorganisten Cameron Carpenter fokussiert wird und wohl den eigentlichen Schreibanlass darstellen dürfte.

Der meines Erachtens die komplexe Sachlage gedanklich nur mangelhaft durchdringende Textinhalt Ulrich Walthers besitzt für mich in einem Höchstmaße infamen Charakter. Es bleibt in der unmittelbaren Darstellung durch den - ebenfalls konzertierenden und nahezu gleichaltrigen - Organisten aus Graz wahrlich nicht viel Gutes an Cameron Carpenter bestehen. Er wird durch Walther mit Zuschreibungen illustriert, die den Eindruck erwecken, man hätte es lediglich mit einem mediokren Organisten zu tun, der sich einfach nur geschickt verkaufe, weil er professionelle Marketingstrategien abarbeiten lassen könne. 

Einer befreundeten Linguistin gab ich nach der ersten Verwunderung, wie man denn so etwas schreiben könne, das Walther-Elaborat zu lesen. Sie las den Artikel inklusive der Fußnoten, schüttelte mehrmals den Kopf, nahm daraufhin verschiedene Websites in Augenschein und schmunzelte.

Nun könnte ich den Beitrag Walthers so im Raume stehen lassen. Carpenter würde sich sicherlich mitnichten gestört fühlen. Die Antwort auf Walther, die ich wegen des Sujets bewusst in der Ich-Form schreibe, ist mir jedoch deswegen besonders wichtig, weil mich die ungewohnte und neuartige Schärfe der zunehmend unsachlichen Auseinandersetzung um die Projektionsfläche Cameron Carpenter nachhaltig stört.

Schmidt-Banse: "Stillsitzen und anbeten und nichts verstehen"        

Das inhaltliche Grundmuster ist schnell erzählt, obwohl es im Text beflissen wirkende Überlängen erhält. Walther bedient sich meiner Wahrnehmung zufolge mehrerer Zitierautoritäten aus dem aktuellen Klassik-Konzertbetrieb resp. -Management und nutzt dazu weitgehend Online-Artikel. Musikwissenschaftliches im mir vertrauten Sinne habe ich nicht so leicht finden können. Ein nachvollziehbarer Einbezug evidenzbasierten Materials ist für mich mitnichten erkennbar.

So erhalten u.a. die dekadenztheoretischen Worte des frz. Pianisten Pierre-Laurent Aimard einen durchaus prominenten Stellenwert im gedruckten Artikel: "Heutzutage verstehen viele junge Leute etwas von Marketing und Public Relations und wissen sich gut zu verkaufen, weil sie verstehen, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Ein wirklich künstlerisches Projekt gibt es sehr selten. Darunter leidet der Inhalt. Und wichtig ist Kreativität, die nicht vom Terrorismus der Wirtschaft diktiert wird."

Dieses selbstgewählte, larmoyante und seit Jahren absehbare Unwohlsein innerhalb der ergrauten und abgängig anmutenden Klassikszene – das auch durch weitere Marktbeteiligte des Konzertbetriebes in Walthers Artikel zum Besten gegeben wird – versucht Ulrich Walther offenbar auf die Orgelszene herunterzubrechen: Cameron Carpenter als das leibhaftige Marketing-Crossover, ein David Garrett, der die Orgel kommerziell (er)schlage.

Den Ball etwas flacher halten    

Eine elementare und zugleich wichtige Erkenntnis gerät nun bei Ulrich Walther überhaupt nicht in den Blick der Erörterung: Inhaltlich und in soziologischer Hinsicht geht es um sogenannte Verteilungskämpfe. Walther scheint als konzertierender und ausbildender Organist mit dem empfundenen Stand des Verteilungskampfes nicht zufrieden zu sein. Mir drängt sich der enttäuschende Eindruck auf, dass er sich inmitten eines suggerierten Musiksoziologie-Ambientes vernehmlich an einem einzelnen sehr erfolgreichen Instrumentalisten abzuarbeiten versucht.  

Musikwissenschaft resp. Musiksoziologie ist indes etwas Anderes, das dürfte jedem klar sein, der diese nur wenige Semester studiert hat oder vielleicht auch ein Taschenbuch aus der Bahnhofsbuchhandlung dazu gelesen hat. Und der gute alte Adorno wäre ohnehin noch eine ganz andere Liga. Aber auch vom Feuilleton erwarte ich mehr. Walthers auf mich blasiert wirkender Verriss kann mich auch deswegen nicht überzeugen, da er vernehmlich stigmatisieren möchte und die Illusion einer Wagenburg skizziert.

Ulrich Walther zur Diskussion um Cameron Carpenter:

"Der kritische reflektierende Leser mag sich fragen, ob eine derart polarisierende Pop-Gestalt der öffentlichen Musikszene überhaupt für die tiefere fachliche Diskussionen von Relevanz ist."

(Schriftsatz original; Quelle s.o.) 

Viel konstruktiver erscheint es mir, den Ball etwas flacher zu halten und anhand von Carpenters Erfolg etwas lernen zu wollen, ihn für das Konzertwesen oder den kirchenmusikalischen Alltag zu analysieren, ohne ihn imitieren zu wollen. Es ist angesagt, Mechanismen der Dialektik zwischen Künstler und Publikum wahrzunehmen und diese entsprechend zu elementarisieren. Erstaunlicherweise wird dieses Vorgehen durch Autoren wie beispielsweise Wolfgang Rüdiger, Bernhard Löffler oder Dominik Axtmann auch in kleineren, unprätentiösen und vor allen Dingen sachlichen Beiträgen zur Musikvermittlung geleistet. Nebenbei: Die Zeitschrift Musica sacra wirkt auf mich in dieser Hinsicht sehr fortschrittlich und offensiv.

Von der Orgel zur Tütensuppe: Walthers Verteidigung eines Profi-Kochs

Neid sei doch keinesfalls im Spiele, so beteuert es Ulrich Walther vielsagend und und für mich auffällig unaufgefordert, das sei lediglich ein Totschlagargument; und so fährt er sinngemäß fort: Schließlich gebe es doch Wertmaßstäbe, die nur von besonders Kundigen zu einer Beurteilung herangezogen werden könnten. Damit hätte Walther vielleicht grundsätzlich bei einigen hochkomplexen Grundfesten unserer Zivilisation abseits der Milieu-Codices Recht haben können. Dessen ungeachtet zieht er jedoch einen Vergleich, der meines Erachtens ob seiner Absurdität umfänglich disqualifiziert.

Walthers O-Ton lautet: "Ein professionell ausgebildeter Koch wird z.B. industriell hergestellte Geschmacksverstärker auch eher nicht in seinen kulinarisch anspruchsvollen Rezepturen verwenden wollen."

Nehmen wir nun aber einmal an, dass das Gesagte stimmig wäre. Argumentativ wird hier wohl durch Walther impliziert, dass man mit Hilfe dieses Expertenwissens - über das er als Konzertorganist und Gewinner von Orgelwettbewerben gewiss verfügt - zu einem eindeutigen Urteil kommen muss, mit dem man die Darbietungen der "Pop-Gestalt" Carpenter abzulehnen in der Lage ist. Aber es wird noch mehr unterstellt: Auch all seinen Befürwortern oder nur wohlwollenden Zuhörern dürfte stringenterweise die hinreichende Beurteilungskraft abgesprochen werden, da sie ja entweder nicht in der Lage zu sein scheinen, "industriell hergestellte Geschmacksverstärker" erschmecken zu können oder diese zumindest billigend in Kauf nehmen. Um im Bild zu bleiben: Was ist mit denen, die sich die synthetischen Glutamate gar gerne wünschen? Oder soll Carpenter gar selbst der Koch sein, der seinen Gästen diese klammheimlich in die Suppe rührt? Fragen über Fragen.

Nicht nur Aristoteles' Freude wäre hier gewiss übersichtlich gewesen. Zugespitzt zurückgefragt: Hält Ulrich Walther das applaudierende Publikum Cameron Carpenters für präreflexiv? Ich hoffe fast, Walthers Publikumsschelte massiv falsch verstanden zu haben. So sind die Implikationen des genannten polemischen Vergleiches deutlich bizarr, sie werfen nicht nur intellektuell Fragen auf. Leider wird meiner Einschätzung zufolge durch derartige Aussagen eine groteske Hochkultürlichkeit im akademisch anmutenden Gewande nicht nur zu definieren, sondern auch ex cathedra zu verkünden versucht. Indes fallen mir formale Unregelmäßigkeiten im Text Ulrich Walthers auf. Sie mögen durchaus nachrangig sein. Wir werden aber z.T. darauf noch einmal am Ende der Replik zurückkommen.

Starker CC-Tobak? 

Ulrich Walther aus Graz wirft eine in der Szene durchaus virulente und zugleich polyvalente Frage auf: Was macht Cameron Carpenter eigentlich nur falsch? Und zwar so falsch, dass man immer wieder dermaßen überreizt reagiert, institutionell abwehrt und gar dämonisiert? 

Glaubt man dem Grazer Orgelprofessor, dann dürfte Cameron Carpenter so ziemlich alles falsch machen, an ihm lässt er innerhalb seiner Darstellung wahrlich kein gutes Haar. Wenn ich das alles recht verstanden habe, so stellt er ihn sinngemäß wie folgt dar: Was der "Orgelperformer" Cameron Carpenter auch mache, es gehe ihm um Selbstdarstellung und nicht um die Kunst. Er ordne sich dem Kunstwerk nicht unter, sondern kommuniziere mit ihm auf Augenhöhe ("quasi gleichrangig und mitschöpferisch"). Es werde ein maximaler Output mittels Standardisierung angestrebt (so auch durch das Digitale), letztlich gehe es doch mittelbar um die Verdrängung des Wahren, Schönen und Guten zugunsten einer durchgestylten Gewinnoptimierung in der Zange der Musikindustrie. Sein Spiel ignoriere permanent die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, es sei doch eher künstlich und nicht künstlerisch, so legt es Walther suggestiv nahe. Ja, es handle sich letzlich um eine "Vergiftungssymptomatik" der sich angeblich kommerziell fehlentwickelnden Orgelszene.

Es fällt mir auf, dass Walthers Artikel zugunsten Carpenters zum Teil sogar erstaunlich werbend bebildert wurde; und so wundere ich mich über die Endredaktion der Macher von "organ - Journal für die Orgel". Wollte man gar nur provozieren? Vielleicht ist es sogar gelungen.

Vorsicht Satire! Ausblick angesichts einer freudefreien Orgelszenerie  

Damit ich die von mir bislang als bildungstümelnd und bierernst wahrgenommene Orgelszenerie überhaupt aushalten kann, brauche ich etwas Humorvolles. Deshalb erfinde ich jetzt einen schlechten Witz. Alle in diesem Witz geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt. Nun denn, hier jetzt der Iocus:    

Cameron Carpenter will bei einem deutschen Orgelprofessor Unterricht nehmen. Er möchte ergründen, warum er zuweilen heftig  ...  mehr unter "Vorsicht Satire!"
      

Die David-Garrett-Folie und das dünne Eis 

Ulrich Walther bemüht sich augenscheinlich, immer wieder den Vergleich Cameron Carpenters mit David Garrett zum Besten zu geben. Er scheut sich auch nicht davor, Liberace aus Las Vegas als phänotypische Vergleichsvorlage nahezulegen. Die Empfindung einer gewissen Trivialität scheint möglich zu sein. Sie ist für mich aber an anderer Stelle ausfindig zu machen, nämlich in der Substanz des Textinhaltes selbst. Klopft man diesen einmal ungeachtet des Wortgeklingels etwas intensiver ab, so ergibt sich meines Erachtens recht dünnes Eis. Dazu vier symptomatische Beispiele:

1. Wenn Ulrich Walther einmal präziser wird, dann führt er sich meines Erachtens zuweilen selbst ad absurdum. So auch beim Thema Artikulation: Walther attestiert vernehmlich im Indikativ, dass Carpenter "den Aspekt differenzierter Artikulation" größtenteils ausblende, ein "uniformes Dauerstaccato über das gesamte Stück etc." nennt er ohne weitere Konkretion. Bereits im nächsten Satz (sic!) wird versucht, diese apodiktische Aussage wieder durch eine mir verschwurbelt erscheinende Diktion erheblich abzumildern: "Es wird zumindest bei seiner vornehmlich am Staccato/Staccatissimo orientierten Spielart diesbezüglich nur schwer eine wie auch immer geartete Systematik erkennbar."

Die Leserschaft darf sich fragen: Ja bitte, was denn nun? Dauerstaccato oder eine am Staccato/Staccatissimo orientierte Spielart? Das sind zweierlei Dinge. Und wo bleibt das Portato überhaupt? Oder soll nur eine angeblich fehlende Systematik unterstellt werden? Ein Dauerstaccato hätte aber eine Systematik. Das sind m.E. Denkfehler, die sich durch mangelnde Präzision und das starke erkenntnisleitende Interesse ergeben haben könnten. Ich habe den Eindruck, dass Walthers Missfallen - das sich wie auch immer generiert haben mag - einen objektivierbaren Anstrich erhalten soll und er sich auf dem Wege dahin selbst verwirrt. Abgesehen davon, dass die Behauptung einer fehlenden Artikulationskultur schlichtweg falsch ist, könnte man sie, wenn sie denn Bestand hätte, Matadoren wie Couchereau oder Gillou ebenso als Killerphrase zuteilwerden lassen wie Koopman und Konsorten.

2. Weitere Wahrnehmungen bezüglich Carpenters lassen mich ebenfalls sehr erstaunen, so zum Beispiel: "Den kirchlich-religiösen Charakter der Orgel verneint er für sich selbst. Dass er in jüngster Zeit aber auch reine Bach-Programme spielt, mag man letztlich doch als ein Einknicken vor dem omnipräsenten Klischee "Orgelmusik ist gleich oder ist zuerst J. S. Bach" gewertet werden."

Das ist wahrlich ein Kategorienfehler, denn hier werden argumentative Zusammenhänge konstruiert, obwohl das eine mit dem anderen inhaltlich sehr wenig zu tun hat. Zudem ist leider wohl schlecht recherchiert worden: Reine Bach-Konzerte spielt Carpenter bereits spätestens seit dem 21. November 2009 ("Live concert taped" - CD "Cameron Live" mit nicht-choralgebundenen Werken).

Es sei an dieser Stelle gerne polemisch zurückgefragt: Mag man am Spieltisch vor dem Bach-Spiel erst jeweils eine Kirchenmitgliedschaft durch den beglaubigten Steuerbescheid nachweisen lassen? Ich halte als Theologe säkulares Orgelspiel im Sinne eines „Keinen Tach ohne Bach“ für mehr als möglich. Gott sei Dank. Diese Größe hat er gewiss. Und sollte man sich als Christ nicht eher freuen, wenn man sich denn schon einen Zusammenhang zimmert? Vielleicht ist Carpenters Bach-Spiel gar ein metaphysischer Fingerzeig auf immanente Religiösität oder gar Christentum. Wir wissen es nicht. Ich halte diese Vorhaltung Walthers für peinlich und philiströs.

Eines wurde mir an dieser Stelle bei der Lektüre deutlich: Cameron Carpenter kann Ulrich Walther einfach ganz und gar nichts recht machen.                                        

3. Das Reizthema Orgel & Digitales kann ich in Ulrich Walthers Artikel argumentativ vernachlässigbar dargestellt sehen. Es scheint mir evident, dass es Walther lediglich um einen - allerdings wenig galanten - Verriss der neuen digitalen und eine Million teuren Reiseorgel Carpenters (International Touring Organ) mit sehr bekannten Argumentationsversuchen und um ein paar interdisziplinäre Seitenhiebe gehen soll, die wir hier nicht spezifizieren müssen.

Indes ist für mich auffällig, dass Walther bei seiner Beurteilung von digitalen Orgelinstrumenten die Sampletechnik fokussiert, jedoch das mit ihr einhergehende Physical Modelling (frei erfundene und konstitutive Algorithmen für die Simulation von Windversorgung, Schwellwerk oder Tremulanten etc.) nicht erwähnt. Ebenso verschweigt er wohl auch die heutige Klangsynthese (Physis-Technologie) als Alternative zur Sampletechnik. Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob ich das alles beim Autor als bekannt voraussetzen darf.

Gleichwohl scheinen Softwaresampler im Gegensatz zu Hardwaresamplern weniger mit Kritik bedacht zu werden. Es erstaunt mich, dass Walther offenbar der Illusion einer ausreichenden Dokumentationskraft von Softwaresamplern aufsitzt. Sie wird gerne - und das dann mit einem gefühlten Dünkel - in der Werbemetaphorik platziert. Ich muss aber feststellen: Soft- und Hardwaresampler sind enger miteinander verwandt, als digitale Marketing-Distinktionen erahnen lassen. Beide Systeme nutzten übrigens das o.g. Physical Modelling in einem beachtlichen Maße. Wird hier möglicherweise zwischen den Zeilen der Überschrift des Artikels alle Ehre erwiesen? Wie dem auch sei: Walthers genügender Kenntnisumfang im Bereich Digitalorgel ist für mich recht fraglich.

4. Schließlich fiel mir persönlich eine Bemerkung als absolut unglaubliche Invektive auf, deren üble Schärfe in der Diskussion um Carpenter ungewohnt neu und singulär zu sein scheint (siehe Fußnote Nr. 20). Diese kontextual insinuierte und durch die verzerrende Darstellungsform und Bewertung eines angeblichen Forschungsergebnisses offenbar ganz und gar nicht subtile Schmähung Carpenters mag für mich vielleicht sogar die Intention des gesamten Textes entlarven. Ich zitiere die Fußnote vollständig mit ihren Unregelmäßigkeiten: 

"Hier sei auf eine hochinteressante Publikation verwiesen: Cordelia Miller: "Der Orgelvirtuose – ein 'männlicher' Künstlertypus?", in: Die Musikforschung, 4/2014, S. 341-362. Miller stellt in ihren Ausführungen sowohl Iveta Apkalna als auch Cameron Carpenter in Relation zu (Orgel-)Virtuosen des 19. Jahrhunderts. Dabei unterscheidet sie zwei Grundtypen: "Der 'unechte' Virtuose, dessen Können in Wirklichkeit nur als Meisterschaft getarnte Scharlatanerie ist, wird zum 'weiblichen' Künstlertypus im Gegensatz zum 'echten' Virtuosen, der den Bereich des männlich konnotierten Geistigen repräsentiert. Letzterer zeichnet sich durch Ehrlichkeit, Echtheit und Ernsthaftigkeit aus: er sieht sich als Vermittler des Komponisten und ist bereit, sein Ich zurückzustellen, um den Kunstwerk zu dienen. [...] während Gegenbegriffe wie Schwäche, Krankheit, Unnatürlichkeit und Affektiertheit den 'weiblichen' Virtuosentypus kennzeichnen." Der weibliche Typus schließt dabei männliche Protagonisten mit ein."

Ich sehe, dass Ulrich Walther die Inhalte des Aufsatzes vermutlich mit Hilfe seiner hermeneutischen Brille schlichtweg tendenziös verkürzt und instrumentalisiert.  

Gewiss muss man der promovierten Kantorin Cordelia Miller (Berlin) die Frage stellen, ob sie in ihrem Artikel - bei allem Reiz einer wohl historistischen Fragestellung - den passenden hermeneutischen Schlüssel für die u.a. angedachte Gender-Analyse der derzeitigen Orgelszene verwendet, wenn sie Semantik und Sprachbilder des 18./19. Jahrhunderts (so z.B. Johann Kuhnau; sic!) mit ihren inkludierten Vorstellungswelten und Konnotationen ohne Scheu für das 21. Jahrhundert nutzt. 

Mein ganz persönliches Fazit dieser Replik   

1. Ich vernehme in der Diktion von Prof. Ulrich Walther aus Graz ein gerüttelt Maß konstruierter Schadenfreude. Diese möchte er meiner Ansicht nach entwerfen, indem er das Spannungsfeld mit Hilfe der aussagearmen Termini E- und U-Musik am Beispiel Carpenters neu formatiert, den E-Bereich dünkelhaft überhöht und dann  Carpenter durch die Zuschreibungen des U-Bereiches zu entwerten versucht. Dieses Ansinnen halte ich für das Vorantreiben einer - mitunter vermutlich zynisch-hilflosen - 'Apartheid auf der Orgelbank'.

2. Der seriöse Musiker und Komponist Cameron Carpenter mit reflektierter Aussage und unglaublichem technischen Vermögen wird durch Walther offenbar ausgeblendet.

3. Grundsätzlich werte ich Walthers versuchte, womöglich unbewusste und suggestive Bad-boy-Charakterisierung Carpenters als Erfolg der Konzertagentur.

4. Die für mich deutlich spürbare und mittelbare Insinuation, Cameron Carpenter wäre so etwas wie ein schwacher, kranker, unnatürlicher und affektierter Scharlatan weiblichen Typs oder dergleichen, verweist vermutlich auf eine intentionale Motivation, die bislang sehr unübliche Tonarten in der kontroversen Diskussion vernehmen lässt. 

5. Walther schreibt ersichtlich unaufgefordert, dass (wohl auch seine eigene) Kritik an Carpenter nichts mit Neid zu tun hätte. Ich glaube ihm das nicht.

6. Mitunter muss ich auch leider bei der Lektüre des Artikels das Phänomen Homophobie assoziieren. Das empfinde ich als sehr bedauerlich und unangemessen.

7. Eine sachgerechte und unaufgeregte Sichtung des Phänomens Cameron Carpenter dürfte in musikwissenschaftlicher Hinsicht immer noch ausstehen. 

Und ehe ich's vergesse: Ich bin recht gespannt, wie Cameron Carpenters neue ITO-CD "All You Need Is Bach" rezipiert werden wird.  (©mpk)  

                                                                                                                                                                                                  

                                                                                                                         

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