Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601
Orgel-Pop? Milieu? Subkultur? Betrachtungen zur Orgelmusik im Spannungsfeld des Soziologischen
Zitate von Dietmar Korthals - www.die-populaere-orgel.de
Text 1
„... Musikstil und Subkultur sind zwei Dinge, die eng miteinander verzahnt sind. Mitglieder von Subkulturen entwickeln eigene Wertigkeiten, ja definieren sich sogar über diese. Und sie erstellen einen Wertekanon, nach denen sie vorhandene Musik in für sie relevante "gute" oder "schlechte" Musik kategorisieren. Auch diejenigen, die klassische Musik goutieren, bilden eine Subkultur. Ihr Wertekanon besagt, dass eine Musik dann gut ist, wenn sie die Regeln der Kontrapunktik, der klassischen Formenlehre, der Instrumentation mit einer bestimmten Raffinesse entspricht. Eine Fuge ist toll, eine Dubstepnummer fällt durch's Raster. Die Gruppe der Dubstep-Liebhaber bewertet Musik nach der Komplexität des Rhythmus und Basses und der Originalität des Arrangements. Kill the Noise ist toll, eine Fuge fällt durch's Raster. Dadurch, dass jede Subkultur ihre eigenen musikalischen Wertigkeiten kreiert, entwickeln die Künstler, die sich innerhalb des Genres bewegen, immer komplexere Fähigkeiten im Bereich der relevanten Werte. Subkulturen existieren viele, existieren gleichberechtigt nebeneinander. Subkulturen sind zudem fluktuativ: Sie entstehen. Sie verschwinden.
Nun gibt es die Subkultur der Klassikliebhaber. Und eine weitere, die der Kirchgänger. Eine Schnittmenge ist zwischen beiden ist gegeben. Auf jüngere Außenstehende wirken diese Subkulturen zunächst unattraktiv: Alter 50+, eigene, eingefahrene Gesetze und Verhaltenskodexe, denen man sich anpassen muss, wenn man Gottesdienst oder Konzert betritt. Nein, da bleibt man lieber unter sich, in der eigenen Subkultur, der peer group, die einen so nimmt, wie man ist. Die dahinter stehende Musik wird dadurch unzugänglicher. Es ist demnach m.E. zunächst einmal eine wichtige Aufgabe der Kirche, sich als Institution als Teil bestehender Subkulturen zu etablieren und sich zu vernetzen. In meiner Gemeinde gelingt dies hervorragend: Die Kirche hat einen hervorragenden Ruf in der Independent-Szene als Kulturkirche und ein positives Image. Das spüre ich auch als Organist, weil ich merke, dass ich potentiell mit meinem Instrument, der Orgel, an diese Leute herankommen kann. Nur die Wege, die in den letzten Jahren gegangen wurden, sind völlig andere: Eine bewusste Vernetzung von Kirche und subkulturellem Alltag ist dem vorhergegangen.
... Auch wenn ich mir wünsche, dass die Orgel unter jungen Leuten ein attraktives Instrument sein möge: Die jugendlichen Subkulturen haben bereits eigene musikalische Wertigkeiten entwickelt, zu denen mehr gehört als nur die Adaption eines Rhythmus oder einer Harmonik auf das Instrument "Orgel". Adaptionen bewegen sich derzeit in einem Niemandsland: Klassikliebhaber sehen ihre Werte nicht vertreten, Mitglieder junger Subkulturen ebenfalls nicht so sehr. Trotzdem erscheint der Weg lohnenswert, denn ich merke, dass sich so langsam um diese Musik eine neue Subkultur bildet. Als Komponist bietet dieses Crossover zudem eine hervorragende kreative Spielwiese: Es macht einfach Spaß, aus Merkmalen von Jazz, Pop und traditioneller Orgelmusik etwas völlig Neues entstehen zu lassen. Einschließlich eines neuen Publikums.“
Text 2
„Es erfordert genauso artifizielle Fähigkeiten, gute Musik mit einer Band zu machen wie mit einer Orgel, einem Chor, einem Kammerensemble. Popularmusik folgt anderen musikalischen Wertigkeiten und Gesetzmäßigkeiten, die eingehalten werden wollen, damit sie "gute" Popularmusik sind. Es ist halt nicht damit getan, dass man ein paar Akkorde kennt und diese nach Rhythmus XY einfach wiedergibt. Das würde in etwa dem entsprechen, wenn man nach einem Semester Tonsatz an der Musikhochschule mit dem Erlernten eine Komposition macht. Diese Komposition würde zwar vielleicht als "Klassik" dechiffriert werden können, es wäre aber noch keine Klassik, die wir mit besonderen Wertigkeitsattributen versehen würden.“
Text 3
“Es hat ein Paradigmenwechsel in der Musikwissenschaft bei der Beurteilung von Popularmusik stattgefunden, der die soziologische Komponente beinhaltet. Ich bin z.B. ein Kind der cultural studies der 90er Jahre (der Terminus ist zwar schon älter, ich meine aber, dass ich den Stand der Entwicklung der cultural studies in den 90er Jahren seinerzeit bewusst reflektiert habe) und habe miterlebt, wie diese Erkenntnisse in die Musikwissenschaft mit eingeflossen sind. Demnach kann die Frage, was denn eigentlich "gut" oder "schlecht" ist in der Kunst, nur von der Subkultur beantwortet werden, für die sie geschaffen ist. Das bedeutet, dass die Subkultur der akademischen Musiker mit ihren Vorstellungen, was "gute" Musik ausmacht, eine Dancefloornummer gar nicht beurteilen können, weil die Dancefloornummern den Chiffren der Subkultur folgt, für die sie geschaffen wurde. Die Zielgruppe hat völlig andere Erwartungen: Ist der Rhythmus interessant und innovativ? Existiert ein flow? Etc. ... etc. ...
Gerade in diesen Punkten wird vom Schaffenden eine Komplexität entwickelt, um diesen Erwartungen nicht nur zu genügen, sondern auch um ggf. besser zu sein als andere Dancefloorkomponisten. Und die Artefizialität, die dabei entsteht, steht der Kunstfertigkeit in der traditionellen Musik in nichts nach. Sie erfüllt nur andere Normen und wird dadurch mit dem Regelkanon der traditionellen Musik nicht greifbar. Für eine Bewertung einer Musik, ob sie "gut" oder "einfach" ist, ist es für die Musikwissenschaft zunächst notwendig, die Bedingungen der Subkultur zu untersuchen, für welche diese Musik geschaffen ist. Und nach Analyse der Regeln kann anhand der für sie geltenden Gesetzmäßigkeiten ein Urteil gefällt werden.
Nur: Universelle Regeln, nach denen man Musik als "gut" oder "schlecht" beurteilen kann, gibt es nicht. Und hat es auch nie gegeben.“