Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche
ISSN 2509-7601Nahezu pure Grandezza - Rezension der CD Cameron Carpenters "All You Need Is Bach"
Ohne
Zweifel: ein wahrhaftes Meisterwerk mit großem Sturm und Drang. Man fühlt sich an
Mendelssohns Italienreise erinnert, so dann auch an seinen Ausruf „Die
Sonne brennt fortissimo“. Wer gerät hier aber mehr ins Schwitzen?
Carpenter, die Zuhörerschaft oder gar die immer noch neue und vermutlich einem Update unterzogene International Touring Organ (ITO)?
Ein
nachhaltiger Eindruck setzt sich im Laufe des wiederholten Zuhörens
fest: Mehr geht einfach nicht, und das hinsichtlich Tempo und
inkludierter Strukturiertheit des Ausdrucks. Sowohl das durchdeklinierte
Rubato mit all seinen Spannungsbögen als auch der oftmals sagenhafte
Register- und/oder Manualwechsel sind auf absolute Hochleistung
ausgerichtet. Gleichwohl hat man wirklich stets das Gefühl: Das ist
absolute Live-Musik einer immerhin sechstägigen Aufnahme-Session im
ITO-Gastraum der akustisch erprobten Jesus-Christus-Kirche zu Berlin-Dahlem, die nicht nur ein renommiertes Tonstudio vieler Künstler und einen bekannten Ort des Kirchenasyls darstellt, sondern auch durch die Namen Martin Niemöller oder Otto und Ludwig Bartning bekannt wurde.
In puncto Produktion & Rezeption: Mehr geht nicht ...
Eine
wichtige Frage stellt sich wohl und das eingedenk aller speichernden
Elektronik: Wie kann sich der gute Mann das alles - über das Auswendigspielen hinaus - merken und in diesem
sagenhaften Drive punktgenau zelebrieren? Aber genau mit diesem Wort
sind wir beim eigentlichen Kontext: Diese CD repräsentiert eine Feier,
die zwar ihre Leichtigkeit besitzt, beinahe noch ungezwungenen Charakter
einer Fête à la „Ich spiel dir mal was vor“ an den Tag legt, aber
zugleich auf das Ende der Fahnenstange aufmerksam macht, da die Hörerin resp. der Hörer nun auch den rezeptiven Mitvollzug bewältigen können muss.
Dass man auf der Orgel den vierstimmigen Contrapunctus IX (BWV 1080) pedaliter darstellen kann, ist für Carpenter nun wirklich eine Selbstverständlichkeit. Er nutzt diesen als ungewohntes und zugleich nobles Entree ohne weitere Showeffekte. Insgesamt steht der Contrapunctus Pate für die weiteren Werke dieser Bach-CD, die der Wahl-Berliner recht statisch registriert und ohne die für ihn ansonsten typischen Klangveränderungen auf den Weg gibt. So weicht Carpenter mit seinem Programm von All You Need Is Bach zwar vom typischen Bachkonzert-Codex merklich ab, zeigt jedoch zu einem Gutteil Annäherungen an bekannte Interpretationsgewohnheiten auf, die er mit und ohne Turbo inszeniert.
Es
muss in diesem Kontext nicht betont werden, dass Cameron Carpenter
Bachsche Triosonaten mehr als famos zu spielen vermag. Sagen muss man
sogar: Selbst der zuweilen als Trillerkönig bezeichnete Ton Koopman
wirkt im Gegensatz zu ihm uninspiriert pedantisch. Beim Hören der als Tanz dargereichten Sonaten (BWV 525/527) will man mit Ulrich van Hutten fast
rufen: „Es ist eine Lust zu leben!“
Entspanntheit & Virgil Fox +++
Eine
in sich ruhende Entspanntheit beim Musizieren (diese Seite der
Carpenter-Interpretationen wird von vielen gar nicht wahrgenommen) macht
sich immer wieder bemerkbar, so auch in den Mittelsätzen der Sonaten
und insbesondere in der Orgel-Aneignung der Französischen Suite Nr. 5
für Cembalo, die kontemplative Momente des ungewohnt bloßen
Manualiter-Spiels bei Carpenter zum Besten gibt, wohingegen vor allem
die Fuge von BWV 544 fast zu einer etwas überdrehten Registershow der
besonderen Art à la Isao Tomita gerät. Dass nicht alle Registrierungen der CD in allen
unterschiedlichen historischen Stimmungen gänzlich überzeugen müssen, liegt freilich
in der Natur der Sache dieser hypertrophen Darbietung.
Einen wahrhaften „Virgil Fox +++“ kreiert Taylor Cameron Carpenter
mit der Interpretation von „O Mensch, bewein dein Sünde groß“. Das ist
hochinteressanter Filmmusiksound, der das hermeneutische Kopfkino in
neue Bereiche lenkt. Ein stellenweise dreimanualiges Spiel, das Sopran
und Alt im erstaunlich neuen Solo-Kontrast zeichnet, leuchtet die Faktur
dieser Choralbearbeitung abseits des vorgeblich historisch Korrekten
elegisch aus. Allein für diese exorbitant spannungsgeladene Aufnahme,
die doch so ganz unscheinbar im gefühlten Albert-Schweitzer-Stil ihren Anfang
nimmt, hat sich der Erwerb der CD bereits gelohnt.
Cameron Carpenter - ein Scharlatan 'weiblichen Typs'? Ein paar subjektive Bemerkungen zu Prof. Ulrich Walthers Sichtweise auf einen US-amerikanischen Ausnahmeorganisten Ulrich Walther: Zwischen Crossover und Kommerzialisierung. Die Orgel im Spannungsfeld fortschreitender kultureller Ökonomisierung – ein Plädoyer für die künstlerische Orgel im 21. Jahrhundert, in: organ - Journal für die Orgel (18 Jg.), Heft 2015/1, S. 24-31. Um es zu Beginn deutlich auszusprechen: Cameron Carpenter sollte man innerhalb der Orgelszene komplementär verstehen. Diese ist im Gegensatz zur sog. Klassikszene weiteren und sehr komplexen (auch kirchlichen) Herausforderungen zuzuordnen. Carpenter ergänzt diese Szene, die innovativer Schübe bedarf und ungeachtet dessen bereits einen reichhaltigen Schatz aufweist. Ich stelle fest, dass der US-amerikanische Ausnahmemusiker eine gute dialektische Bereicherung für die säkulare und kirchliche Rezeption von Orgelmusik darstellt. Durch Zufall geriet ich an den Text des Grazer Orgelprofessors Ulrich Walther, der mich nicht nur irritierte, sondern auch durchaus fassungslos zurückließ. Die Redaktion der ... mehr +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ Sechs Thesen Cameron Carpenters zu seiner International Touring Organ (und dem Schwesterinstrument im Kravis Center for the Performing Arts in West Palm Beach/Florida): „1. Eine umfassend ausgestattete Standard-Orgel ist praktikabel. 2. Sie ist ökonomischer als eine Pfeifenorgel. 3. Sie unterliegt weniger als eine Pfeifenorgel Veränderungen in der mechanischen Klangerzeugung und einer allgemeinen Abnutzung – beides Faktoren, die im 20. Jahrhundert öffentlichen Orgeln stark zugesetzt haben. 4. Sie ist eine große Orgel (im Orgelbau wird stets nach größtmöglicher klanglicher Vollständigkeit gestrebt; für einen vergleichbaren Klang benötigt sie wesentlich weniger Raum als eine Pfeifenorgel). 5. Sie steht nicht im Gegensatz zur jahrhundertealten Orgelbau-Tradition, vielmehr ergänzt und dokumentiert sie diese. 6. Mit ihr beginnt eine neue Ära, in der der Orgelbau in erster Linie auf die Wünsche des Organisten zugeschnitten werden kann und weniger dem Diktat von Architektur, Orthodoxie oder Status unterliegt.“ (aus dem Booklet zur CD: CAMERON CARPENTER – ALL YOU NEED IS BACH – Sony Music Entertainment – Gütersloh 2016 – S. 22) |
Pedalinferno & exzellente Audioqualität?
Bachs
Passacaglia (BWV 582) bringt die Gemengelage schlussendlich für Fans und Kritiker auf den Punkt. Die
spielfreudigen Freiheiten bezüglich des Notentextes sind in der Coda
kaum das Problem, sie sind eher einem Stylus Phantasticus zuzuordnen, wie
ihn der US-amerikanische Ausnahmeorganist nun versteht. Hört man in den
ersten acht Takten der Pedalsolo-fff-Darstellung des Themas – wenn man
philiströs kritisch ist – noch ansatzweise den Lautsprecherklang einer Digitalorgel heraus, so
ist man gegen Ende dieses Tastenfestivals etwas verwundert: Nach all
den durch Spieler und Orgel im Höchstmaße elaboriert dargebotenen
Klängen, die einen berührt und aufgewühlt zurücklassen, wird in
den letzten Takten der Plenumklang der Manuale unmittelbar vor dem Erklingen eines wohl akustischen 64‘-Zungenregister-Pedalfundamentes ohrenscheinlich heruntergepegelt. Das
ist ob der hochgradigen Fake-Kompetenz der ITO (bezüglich einer mehr als stattlichen Dom- oder Konzertsaalorgel) und der ansonsten exzellenten Audioqualität recht
bedauerlich, auch wenn die gewiss infernalische Pedalgrandeur überzeugt.
Es wird nicht deutlich, ob der genannte Umstand dem Interpreten als Finesse
oder gar dem Tonmeister als Not zugeschrieben werden kann. Ein
konsequentes finales Fortissimo in allen Stimmen dürfte hier manchem
audiophilen Hörer fehlen.
Übrigens war dieser martialische Pedalklang auf der ersten CD dieser Orgel "If you could read my mind" nicht wahrzunehmen, was die Vermutung einer Ergänzung resp. eines Updates der Digitalorgel namens ITO aufkommen lässt.
Der
abschließende, launige und unverhofft kurze Kinoorgel-Tusch aus Beatles
mit „All you need is Love“ und der zweistimmigen Invention F-Dur (BWV 779) ist gewiss nichts für die
Anhänger der humorfernen und/oder ergrauten Orgel-Orthodoxie auf dem mehr und mehr brechenden Kirchensteuer-Ast, die ihre Konzertbesucher zunehmend auf Emporen unterzubringen vermögen. Wenn man es konstruktiv sehen mag: Es lebe die Pluriformität der religiösen und säkularen Orgelszene! Es gibt immer Alternativen.
Carpenter & ITO: Grandios realisierte Traumsymbiose
So
mancher mag sich vielleicht fragen: Wer überzeugt mehr, Carpenter oder
seine wendige Reiseorgel der Marshall & Ogletree Organ Builders? Die
Frage wirkt indes unzulässig, denn beide scheinen eine Art grandiose
Symbiose darzustellen: Diese Privatorgel gehört zu Cameron Carpenter,
hier ist er innovativ und adaptiert gewohnte Gepflogenheiten für ein
bislang immobiles Instrument: Was die weltweit transportierten Privatflügel oder Violinen bekannter Interpreten können,
das kann seine ITO ebenso. Carpenters schlichter Kommentar dazu lautet:
„Eine umfassend ausgestattete Standard-Orgel ist praktikabel.“
Summa summarum:
Kaufen, hören, davon erzählen und diskutieren! Sowohl Spieler als auch
Orgel sind bislang nicht übertroffen worden.
Wie gesagt: Mehr geht nun wirklich nicht. (© mpk)