Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche

                   ISSN 2509-7601

  

                                                                                                                                        

Auf der Suche nach dem gelungenen Orgelprospekt

Auch wenn ihr eigentlicher Zweck der eines – zugegebenermaßen sich in einzigartigen Superlativen bewegenden – Musikinstrumentes ist, so vereinigt die Orgel in sich weit mehr, als man einer großen Musikmaschinerie oberflächlich betrachtet zugestehen mag, nämlich eine unbeschreiblich vielfältige Palette kultureller, religiöser, soziologischer, geschichtlicher, physikalischer, musikalischer, technischer und architektonischer Themenbereiche, jeder für sich spannend und ein Universum an Lern- und Erfahrungsstoff für den Interessierten bereithaltend.

Bereits die äußere Gestaltung, basierend auf orgeltypisch-systematisch angeordneten Pfeifenreihen im Silberglanz, lassen vor dem geistigen Ohr visuell Musik erklingen und vermitteln einen erwartungsvollen Vorgeschmack auf das der Orgel innewohnende musikalische Potential an berauschenden Himmelsklängen. Sogar eine momentan nicht tönende Orgel spricht Bände. Sie kann dem Betrachter wie ein aufgeschlagenes Buch von den Zeiten und Menschen seit Ihrer Erbauung bis zum heutigen Tag erzählen, sie kann von der Epoche und der Geisteshaltung berichten, aus der heraus sie errichtet wurde. Aufgrund typischer Charakteristika des Orgelgehäuses läßt sich mitunter auf die geografische Region schließen und es erlaubt Rückschlüsse auf Personen – Auftraggeber, Orgelbauer, Architekten. Unter bestimmten Voraussetzungen, z.B. wenn das Orgelinnere weitgehend dem Erbauungszustand des Gehäuses entspricht, treibt es zu Spekulationen über den Klang, die Disposition, die Verteilung der Klangruppen (Werkprinzip) und ggf. die Technik an. Und da Orgeln i.d.R. für einen bestimmten Raum gebaut werden, weitet sich das Spannungsfeld des Betrachters aus auf die künstlerisch-architektonische Beziehung, die der Prospekt zu seiner Umgebung eingeht, sei sie symbiotisch, sich unterordnend, exzentersch, selbstbewußt, vervollständigend oder sonst wie geartet. Orgelgestaltung ist ein eigenständiger, komplexer Zweig der Architektur.

Im Orgelbau der letzten 40 Jahre findet zunehmend eine Entwicklung in der
Prospektausformung statt, bei welcher die Eindeutigkeit, wie sie allen bisherigen Orgel-Moden und -Prinzipien eigen war, zugunsten einer gesteigerten Individualität zurücktritt. Auch in der Orgelarchitektur macht sich bei aller Landeseigentümlichkeit eine künstlerische Globalisierung bemerkbar. Mittlerweile scheint gestalterisch alles erlaubt, alles machbar zu sein. Traditionalisten geben Stilkopien in Auftrag, um auf detailgetreu nach Jahrhunderte alten Vorbildern gebauten Orgeln möglichst historisch-stilrein musizieren zu können, wenn es an alten bzw. regionsfremden Orgeln mangelt. Auf der entgegengesetzten Seite werden neuzeitlich-kreative Design-Orgeln errichtet, die futuristische Ästhetik im Heute realisieren. Da bleibt es freilich nicht aus, daß im postmodernen Hype auch mal über das Ziel hinausgeschossen wird.

Zwischen diesen Polen gibt es unzählige Arten neuer Orgelprospektlösungen, die in ihrem Pluralismus oftmals keinen bestimmten Stileigenschaften zuzuordnen sind, was auch kein Kriterium eines gelungenen Orgelprospektes sein muß. Selbst im Idealfall einer überschaubaren Anzahl wenig einschränkender Gestaltungsvorgaben ist ein Projektentwurf, ob für Positiv oder Domorgel, ein sorgfältig in allen Facetten zu bedenkender Prozeß. Meist in Abhängigkeit von den Vorstellungen der Auftraggeber ist hierbei abzuwägen, ob eher traditionelle Formen geeignet sind oder eine zeitgenössische Neuschöpfung einem möglichst allseits überzeugenden Prospektentwurf dienlich ist. Nicht jede radikale Purifizierung führt zwangsläufig zu einem guten modern-schlichten Prospekt, genausowenig wie nicht jedes Nachahmen vorhandener Stilelemente ein stimmiges Miteinander von Raum und Orgel bewirkt. Zielführend bei der Ausarbeitung eines aussagekräftigen Gestaltungskonzeptes sind angesichts der Verantwortung bei einem so kostspieligen, langlebigen, von vielen Menschen betrachteten und mit bedeutenden Aufgaben betrauten Musikinstrumentes vor allem orgelbautechnische Logik, architektonische Korrespondenz mit dem Aufstellungsort, ästhetische Weitsicht und Einfühlungsvermögen, sowie nicht zuletzt demütiger Respekt gegenüber dem kulturellen Erbe und dessen bewußt nachhaltiger Fortführung in der Vielfalt der uns heute zur Verfügung stehenden künstlerischen Ausdrucksmittel überlieferter und neu hervorgebrachter Ideen.

Viele Orgelinteressierte entwerfen auf dem Papier oder dem PC-Monitor
Phantasieprospekte. Und mit der nötigen persönlichen Begeisterung kann man darüber hinaus in diesem Bereich selbst praktisch aktiv werden, auch wenn man die Gestaltung von Orgelprospekten nicht professionell betreibt. Manch einer investiert Zeit, Platz und Geld in Bau einer eigenen Pfeifen-Hausorgel und wird dann sein eigener Orgelarchitekt. Die meisten Orgelliebhaber allerdings, die im eigenen Wohnzimmer Orgel spielen wollen, leisten sich eine moderne Digitalorgel, deren Klangqualitäten in kleinen Räumen mittlerweile unbestreitbar geworden sind. Nun brauchen elektronische Orgeln naturgemäß keine Pfeifen und somit auch keinen Prospekt. Aber wer es nicht als Stilbruch empfindet, der holt sich zumindest mit einer selbstentworfenen stummen Orgelfassade vor den Lautsprechern zusätzlich ein wenig optische Orgelatmosphäre in die gute Stube.

Ebenso sind diejenigen (Hobby-) Organologen, die keine gestalterischen Ambitionen verspüren, und denen dennoch die Orgelgehäusearchitektur am Herzen liegt, häufig auf der Suche nach Bildern neuer und alter Orgeln oder gehen selbst mit Fotoapparat und Stativ bewaffnet in jede offene Kirche um das Objekt der Begierde für die eigene Sammlung abzulichten. Noch vor gut zehn Jahren war man ausschließlich auf Orgelbücher, Postkarten und Veröffentlichungen in Fachzeitschriften angewiesen. Einen spezielle Kategorie bilden Festschriften und Monografien, die man sich vor Ort besorgt oder von entgegenkommenden Orgelbaufirmen zusenden läßt. Mittlerweile bietet nun ergänzend zu papiernen Medien das Internet als naheliegendste Quelle eine unüberschaubare Fülle an Möglichkeiten, Datenbanken Rund um den Globus nach Bildern und Informationen von und über Orgeln auf der ganzen Welt einfach und schnell zu durchforsten. Darüber hinaus können eigene Orgelfotos dem Netzfundus hinzugefügt und dadurch anderen Orgelbegeisterten zugänglich gemacht werden, die sich ebenso über die Nutzungsmöglichkeiten des Onlineangebotes freuen und selbst auf der Suche nach bestimmten Orgelbildern sind.

 

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Auf irgendeine Art bildet sich jeder, der sich näher mit der Orgel beschäftigt, eine Meinung zum Aussehen der sichtbaren Schauseite dieses Instrumentes von manchmal gebäudegleichen Ausmaßen. Die Frage, was einen gelungenen Prospekt ausmacht, hängt immer von der jeweiligen Orgel, dem Gebäude, der Geografie, der Zeit, der Intention und dem persönlichen Geschmack ab und schließt eine pauschale Beantwortung aus. Sowohl auf der kreativen Ebene bei Orgelneubauten und in der eigenen Vorstellungskraft, als auch im Rahmen der öffentlichen und privaten Orgelforschung bezüglich bereits existierender Orgeln, wird die Suche nach gelungenen Orgelprospekten also fleißig weitergehen. 

(LDZ 2012)
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            

                                                                                                                         

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